Das Iconomix-Fokusthema für das aktuelle Schuljahr lautet «Ungleichheit: Evidenz und Perspektiven» und war auch Schwerpunkt der Iconomix-Tagung im Sommer 2024 (siehe hier).
Beim Schwesternanlass in der Romandie im Herbst 2024 hielt Ursina Kuhn, Forschungsleiterin am FORS der Universität Lausanne, einen Vortrag, der auf grosse Resonanz stiess.
Im Interview mit Iconomix kommt sie nochmals auf die zentralen Botschaften ihres Referats zu sprechen.
Iconomix behandelt das Thema «Ungleichheit» gegenwärtig in zwei Modulen:
Ursina Kuhn: Zur Darstellung von Ungleichheiten im Lebensstandard wird häufig das verfügbare Haushaltseinkommen betrachtet. Da bezahlte Arbeit die Haupteinkommensquelle darstellt, ist die Ungleichheit zwischen niedrigen und hohen Löhnen ein zentraler Faktor. Der Anstieg der Topeinkommen in den letzten zwei Jahrzehnten hat dabei zu einer Zunahme der Ungleichheit beigetragen. Darüber hinaus beeinflussen auch der Beschäftigungsgrad und die Erwerbsquote von Männern und Frauen das Ausmass der Ungleichheit.
Der Staat spielt eine entscheidende Rolle bei der Verringerung der Einkommensungleichheit, insbesondere durch Sozialversicherungen, Steuern, Sozialhilfe und Subventionen für die Krankenkassenprämien. Ein weiterer wichtiger Ausgleichsfaktor ist die Zusammensetzung der Haushalte. Bei der Messung der Einkommensungleichheit wird üblicherweise davon ausgegangen, dass zusammenlebende Personen das Einkommen gleichmäßig untereinander aufteilen.
So erhöht der Anteil Alleinlebender oder Alleinerziehender die Einkommensungleichheit, da diese interne Umverteilung der Ressourcen fehlt. Die Betrachtung der Haushaltsebene verschleiert allerdings die Ungleichheiten zwischen den Haushaltsmitgliedern und zwischen den Geschlechtern. Schliesslich ist auch die Vermögensungleichheit ein zu berücksichtigender Faktor. Vermögen führt zu sehr ungleich verteilten Kapitaleinkommen und beeinflusst unser Leben in vielerlei anderer Hinsicht.
Ja, in der Tat. Bei Ungleichheit muss man immer definieren, welche Art von Ressource (Lohn, Einkommen, Vermögen) und welche Bevölkerungsgruppe man betrachtet. Ausserdem gibt es Ungleichheiten am oberen, mittleren und unteren Ende der Verteilung. Beispielsweise kann eine Zunahme der Ungleichheit verschiedene Ursachen haben: einen Anstieg der Armut, eine Verkleinerung der Mittelschicht oder einen eine Zunahme des Reichtums am oberen Ende der Verteilung. Indikatoren, die die Ungleichheit in einer einzigen Zahl zusammenfassen, nehmen implizit eine Gewichtung dieser verschiedenen Arten von Ungleichheit vor. Diese unterschiedlichen Perspektiven erklären, warum wir in der Schweiz gleichzeitig Meldungen über eine stabile oder zunehmende Ungleichheit finden.
Beim verfügbaren Einkommen liegt die Schweiz im Mittelfeld, ähnlich wie Frankreich und Deutschland. Die Ungleichheit ist hier höher als in den skandinavischen Ländern, aber weniger ausgeprägt als in den angelsächsischen Ländern oder in weniger entwickelten Staaten wie der Türkei oder Mexiko. Eher überraschend ist die relativ geringe Ungleichheit in der Schweiz bei den Markteinkommen, also vor staatlicher Intervention. Mögliche Erklärungsfaktoren sind eine Wirtschaft mit hoher Wertschöpfung und Wettbewerbsfähigkeit, die Gesamtarbeitsverträge und eine relativ hohe Erwerbsbeteiligung. Demgegenüber ist die Umverteilung durch direkte Steuern in der Schweiz relativ gering.
Quelle: zVg. durch Ursina Kuhn
Ursina Kuhn ist Forschungsleiterin am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Sozialwissenschaften (FORS) der Universität Lausanne. Sie arbeitet am «Swiss Household Panel» und forscht seit vielen Jahren zu sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit.
Ihre Publikationen befassen sich u. a. mit Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Schweiz, der Erwerbstätigkeit von Frauen und Fragen der Datenqualität.