In einem Interview mit der NZZ am Sonntag hinterfragt der renommierte Schweizer Ökonom David Dorn lang etablierte Annahmen über die Vorteile des internationalen Handels.
Angesichts des atemberaubenden Aufstiegs Chinas als weltweit führender Exporteur sieht Dorn nicht nur wirtschaftliche Auswirkungen, sondern warnt vor den tiefgreifenden sozialen Verwerfungen in den von der Globalisierung betroffenen Regionen.
Dorn betont im Interview, dass der Verlust von Arbeitsplätzen in Industrieländern aufgrund des enormen Zustroms chinesischer Exporte nicht nur zu wirtschaftlichem Niedergang, sondern auch zu sozialen Verwerfungen führt. Dorns Forschung zeigt, dass solche gesellschaftlichen Veränderungen zu politischer Instabilität und dem Aufstieg extremistischer Parteien führen können.
Volkswirtschaften haben Schwierigkeiten, sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen, und die Annahme, dass Arbeitnehmer flexibel auf Veränderungen reagieren können, hat sich als unzureichend erwiesen. Der Ökonom plädiert für gut ausgebaute soziale Netzwerke, um die negativen Auswirkungen von Arbeitsplatzverlusten abzufedern.
In Bezug auf die Schweiz hebt Dorn hervor, dass das Land von der Globalisierung profitiert hat, aber auch mit den Herausforderungen der erhöhten Zuwanderung zu kämpfen hat. Im zweiten Teil des Interviews warnt Dorn davor, das Wirtschaftswachstum einzufrieren, da dies zu härteren Verteilkämpfen führen würde.
Das NZZ-Interview mit David Dorn geben wir hier auszugsweise wieder.
NZZ am Sonntag: Ihre Forschung zur Globalisierung stösst weltweit auf Beachtung – kein anderer Schweizer Ökonom wird in der Wissenschaft so häufig zitiert wie Sie. In Ihrer Arbeit beleuchten Sie vor allem die Kehrseiten der Globalisierung. Welche sind das?
David Dorn: Lange galt in der Ökonomie der Leitsatz, dass die gesamte Bevölkerung vom internationalen Handel profitiert. Die Konsumenten kommen in den Genuss von günstigeren Produkten, während ein allfälliger Verlust beim Lohn kompensiert werden kann. Doch der rasante Aufstieg von China zum weltgrössten Exporteur hat nun zu einer Neubeurteilung geführt.
Weshalb? Dass wir günstiger einkaufen können, hat sich doch bewahrheitet.
Das stimmt. Dieser Vorteil der Konsumenten ist zudem gleichmässig auf die Gesellschaft verteilt – ganz im Gegensatz zu den Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt. Die Welle an chinesischen Exporten war so immens, dass in den Industrieländern ganze Branchen zugrunde gegangen sind. Die Verlierer dieser Entwicklung – jene Menschen, die entlassen wurden – konzentrierten sich in vielen Ländern auf einzelne Regionen, die durch die Globalisierung insgesamt an Wohlstand verloren haben.
Ihre Forschung zeigt, wie diese Verwerfungen eine Gesellschaft destabilisieren können.
Effektiv gehen die Folgen weit über den Verlust der Arbeit und den sinkenden Wohlstand hinaus. Nehmen wir jene Städte in den USA, die vom Rückgang der Industrie besonders betroffen waren: Dort ist die Rate der Kriminalität, der Drogentoten oder der Kinder, die in Armut aufwachsen, überdurchschnittlich angestiegen. Selbst wenn der Arbeitsplatzverlust nur eine Minderheit direkt trifft, so sind viel mehr Menschen tangiert, wenn etwa die zunehmende Kriminalität oder das Drogenelend Angst in der Bevölkerung schüren.
Die gesellschaftliche Polarisierung und der Aufstieg von Donald Trump sind auch eine Folge der Globalisierung?
Das lässt sich nachweisen: In den besonders betroffenen Regionen erhalten extremistische Parteien mehr Zulauf, in den USA zum Beispiel der rechte Flügel der Republikanischen Partei. Das führt zur wohl wichtigsten Schlussfolgerung aus unserer Forschung: Volkswirtschaften haben grosse Probleme mit raschen Veränderungen. Zwar ist der Wandel essenziell für den Fortschritt. Geht dieser Prozess aber zu schnell vor sich, dann entsteht grosses menschliches Leid, aus dem wiederum politischer Extremismus hervorgehen kann.
Welche Rezepte empfehlen Sie, um die Schäden der Globalisierung einzudämmen?
Ein gut ausgebautes soziales Netz ist wichtig und hilft, die dramatischen Folgen eines Stellenabbaus abzufedern. In den USA waren diese Massnahmen ungenügend: Unsere Analyse ergab, dass Menschen, die vom industriellen Niedergang betroffen waren, für einen Rückgang von 100 Dollar an Arbeitseinkommen im Schnitt nur 15 Dollar an staatlichen Transfers erhielten. Für Menschen mit geringem Vermögen bedeutet der Arbeitsplatzverlust ein dramatisches Armutsrisiko.
Welche Bilanz der Globalisierung ziehen Sie für die Schweiz?
Die Position der Schweiz ist aussergewöhnlich: Gerade im Handel mit China hat unser Land gleich doppelt profitiert. Einerseits sind die Konsumenten Nutzniesser, weil sie günstige Kleider, Schuhe oder Elektronik aus China kaufen können. Zum andern haben wir das Glück, dass ausgerechnet diese Güter schon seit Jahren kaum mehr im eigenen Land produziert wurden. Somit hat die Öffnung Chinas, anders als etwa in den USA oder Grossbritannien, nicht zu einem Industriesterben geführt. Kommt hinzu: Während die USA nur wenige Produkte nach China ausführen, ist die Schweiz ein bedeutender Exporteur, zum Beispiel von Medikamenten, Maschinen oder Luxusgütern wie Uhren. Somit konnten viele Schweizer Firmen neue Absatzmärkte erschliessen.
In der Bevölkerung lässt sich aber eine zunehmende Wachstumsskepsis feststellen. Auch manche Ökonomen vertreten die Meinung, die Schweiz könne problemlos langsamer wachsen.
Wer als Ziel das Nullwachstum proklamiert, tut so, als ob man den Ist-Zustand einfach einfrieren könnte. Diese Vorstellung ist vor allem für jene Menschen attraktiv, die mit ihrer aktuellen wirtschaftlichen Lage zufrieden sind. Doch es gibt viele Leute, die ein höheres Einkommen anstreben oder benötigen. Zudem gilt das Nullwachstum nur im Durchschnitt: Wenn ein Teil der Bevölkerung die eigene wirtschaftliche Position verbessert, so ergibt sich ein Nullwachstum nur dann, wenn andere zurückfallen. Einen Wohlstandsverlust wünschst sich jedoch kaum jemand.
Das ganze Interview lesen Sie hier.
David Dorn ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Zürich. Seine Schwerpunkte sind Globalisierung und Arbeitsmarktökonomie sowie Chancengleichheit.
Dorn war Fachexperte für das Iconomix-Modul «Die Zukunft der Arbeit», das wir 2018 publiziert haben.
Iconomix widmet sich unter anderem der Vermittlung ökonomischer Grundprinzipien. Dazu gehören die Vorteile aus Handel und Spezialisierung. Mehr dazu im Modul «Arbeitsteilung und Handel».
Hinweis: Diese Story wurde nachträglich bearbeitet.