Dopesick: Wenn Innovation fehlschlägt

Im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie beklagt die USA inzwischen mehr als 1 Million Tote (Stand Juni 2022). Covid ist allerdings nicht die einzige Gesundheitskrise, mit der Amerika in den letzten Jahren zu kämpfen hatte: Seit den späten 1990ern sind mehr als eine halbe Million Menschen an einer Opioid-Überdosis gestorben. Eine kürzlich publizierte Studie, auf welcher dieser Beitrag beruht, untersucht, wie es dazu kommen konnte.

Die Zahlen sprechen für sich selbst: Im Jahr 2019 verstarben in den USA mehr Menschen an Opioiden (49’860) als in Verkehrsunfällen (38’800) oder an Brustkrebs (42’281). Seither ist diese Zahl nochmals drastisch angestiegen.1 Am stärksten betroffen von dieser Epidemie sind Gebiete, in denen viele Personen in der Industrie tätig sind, und Gebiete, wo vermehrt Gesundheitsprobleme im Zusammenhang mit Fettleibigkeit auftreten. Die Situation ist so drastisch, dass Opioid sogar ein wesentlicher Grund für den jüngst beobachteten Rückgang in der Lebenserwartung ist.

Keine revolutionäre Wundermedizin

Alles begann sehr vielversprechend. Im Jahr 1996 brachte das US-amerikanische Pharmaunternehmen Purdue ein neues Medikament auf den Markt. Dessen Name: OxyContin. OxyContin sollte – im Vergleich zu bisherigen Opioiden – nur langsam im Körper freigesetzt werden und deshalb eine längere Schmerzlinderung sowie geringeres Suchtpotential garantieren. Es wurde als nicht weniger als eine revolutionäre Wundermedizin gepriesen.

Leider war dies aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Schmerzen der Patienten kamen früher und stärker zurück als erwartet. Ebenfalls bauten die Menschen höhere Toleranzen auf, was dazu führte, dass sie mehr und höhere Dosen zu konsumieren begannen.

Die Konsequenzen sind drastisch

Als der Gebrauch von Opiaten ab 2011 gesetzlich eingeschränkt wurde, begannen die Rezeptverschreibungen zu fallen. Allerdings war der Schaden bereits angerichtet. Die Menschen waren abhängig von OxyContin und wurden konsequenterweise dazu gezwungen, sich illegalen Opioiden wie Heroin oder Fentanyl zuzuwenden. Mit einem regelmässigen Konsum dieser noch härteren Opioid-Varianten ist der Tod aufgrund einer Überdosis bloss eine Frage der Zeit.

Grafikbeschreibung

Grafik 1 (links)

Die Anzahl Drogen- und Opioidtote nahm nach der Einführung von OxyContin im Jahr 1996 noch stärker zu als die Jahre zuvor. Als dessen Gebrauch 2011 eingeschränkt wurde, griffen die Menschen stattdessen auf Ersatzstoffe wie Heroin oder Fentanyl zurück, was dazu führte, dass die Anzahl Toter noch mehr anstieg (Cutler und Glaeser 2021).

Grafik 2 (rechts)

Der Anteil der Personen mit mindestens zwei schmerzhaften Leiden stieg zwischen 2001-20002 und 2009-2010 zwar an (Balken, linke Skala), der Anteil der Leute mit mindestens zwei Opioidrezepten nahm allerdings noch stärker zu (Linien, rechte Skala). Demzufolge ist der grösste Teil des zunehmenden Opioidkonsums auf die zunehmende Anzahl an Rezeptverschreibungen zurückzuführen (Cutler und Glaeser 2021).

Wie konnte es soweit kommen?

Zunächst einmal genehmigte das FDA (Food and Drug Administration) OxyContin, obwohl keine klinische Untersuchung die oben erwähnte Sicherheit oder Effektivität bestätigen konnte. Gleichermassen lasch handelte die DEA (Drug Enforcement Agency) und genehmigte erhöhte Produktionskontingente für Opioide sogar als die Epidemie bereits erkennbar war. Ein entscheidender Grund für dieses Staatsversagen waren die starken persönlichen Verflechtungen, welche Perdue Pharma mit dem Regulator unterhielt.

Unglücklicherweise rückten die einzelnen Staaten just vor der Krise von der Überwachung der Rezeptverschreibungen ab und die Restriktionen und Auflagen seitens privater Versicherer waren ebenfalls sehr tief. Zudem war das finanzielle Interesse für Pharmahändler und –verteiler wohl grösser als deren gesetzliche Pflicht, Produktverkäufe auf dem Graumarkt zu unterbinden. Letztlich verschrieben aber auch vielfach die einzelnen Ärzte das Medikament zu unüberlegt.

Der wichtigste Punkt allerdings war ohne Zweifel das Verhalten und die Habgier von Purdue Pharma und seiner Gründerfamilie, den Sacklers. Mit einer aggressiven Werbestrategie und Direktverkaufsmethoden an Ärzte erreichte Purdue Pharma, dass OxyContin nicht nur an Krebspatienten (für welche das Medikament ursprünglich vorgesehen war), sondern auch an Menschen mit chronischen Schmerzen verschrieben wurde.2

TV-Tipp: Dopesick

Dopesick ist eine achtteilige Miniserie aus dem Jahr 2021, die sich mit der Opioid-Krise in der USA auseinandersetzt. Die Serie basiert auf dem Buch «Dopesick: Dealers, Doctors and the Drug Company that Addicted America» von Beth Macy und erzählt die Geschichten von OxyContin betroffenen Einzelpersonen und Familien, von der Einführung des Medikaments bis zum Rechtsstreit gegen Purdue Pharma. In deutschsprachigen Ländern wurde die Serie erstmals auf Disney+ ausgestrahlt.

Nachfrageseitige Faktoren von geringer Bedeutung

Die Studie «When Innovation Goes Wrong: Technological Regress and the Opioid Epidemic» analysiert die Faktoren, welche die Opiod-Krise bis heute geprägt haben.3 Auf überzeugende Art und Weise zeigen die Autoren, dass der Anstieg von Opioidgebrauch und -toten sich nur zu einem kleinen Teil auf die Nachfrage rückführen lässt. Mit anderen Worten erklärt der Anstieg von physischem Schmerz, Depression, Verzweiflung und sozialer Isolation nur einen Bruchteil der Misere.

Hingegen ist ein gestiegenes Angebot viel wahrscheinlicher die treibende Kraft der Krise: Nach den technologisch bescheidenen aber stark absatzorientierten Innovationen im legalen Sektor überfluteten Opiate im illegalen Sektor den Markt.

Was nun?

In der Zwischenzeit hat das Pharmaunternehmen Konkurs angemeldet und wurde durch ein Konkursgericht zu einer Zahlung von 4,5 Milliarden US-Dollar verurteilt. Da dieses Vergleichsurteil die Sacklers aber auch vor einer zivilrechtlichen Haftung geschützt hätte, was unüblich ist, legten mehrere Parteien (darunter acht Bundesstaten) Beschwerde ein. Nachdem ein Bundesrichter die Einigung für ungültig erklärt hatte, hat die Sackler-Familie ihr Angebot auf fast 6 Milliarden US-Dollar erhöht, an dem aussergewöhnlichen Schutz ihrer privaten Vermögen wollen sie allerdings nicht rütteln. Die richterliche Bestätigung des neuen Vergleichs steht momentan noch aus.

Gemäss einer Analyse auf die sich die beschwerdeeinlegenden Parteien beziehen hat die Familie Sackler zwischen 2008 und 2017 mehr als 10 Milliarden US-Dollar an Gewinn aus dem Unternehmen abgeschöpft. Der Erlös aus den Vergleichsgeldern soll dazu verwendet werden, Opfer zu entschädigen sowie Kampagnen zur Milderung der Krise zu finanzieren.4

[1] Es wird geschätzt, dass zwischen April 2020 und April 2021 mehr als 100'000 Amerikaner an einer Überdosis verstorben sind.

[2] Mehr über die Familie Sackler, deren Methoden, und deren Weigerung, Verantwortung für die Krise zu übernehmen, wird in der «Last Week Tonight»-Folge  «Opioids III: The Sacklers» sowie dem Artikel «Empire of Pain — the story of the Sacklers and OxyContin» der Financial Times aufgezeigt.

[3] Die Studie wurde im Herbst 2021 im Journal of Economic Perspectives publiziert. Diese ist unter dem folgenden Link frei zugänglich (Englisch).

[4] Siehe Artikel «Sackler owners offer up to $6bn to settle Purdue Pharma bankruptcy» sowie «Judge overturns $4.5bn opioid-related settlement in Purdue Pharma bankruptcy» in der Financial Times.

Dieser Beitrag steht auch in Englisch zur Verfügung.

Portrait von Patrick Stöckli
Beitrag von:
Patrick Stöckli
erstellt am 01.07.2022