Preisgekrönte Ökonomin im Interview

Was sind faire Kritikpunkte an der Volkswirtschaftslehre als wissenschaftliche Disziplin? Wie kann Wohlfahrt gemessen werden und wie sollte Industriepolitik in Zeiten geopolitischer Spannungen aussehen?

Diane Coyle, Professorin an der Universität Cambridge, äussert sich in einem Interview zu diesen und weiteren Fragen. Hier präsentieren wir Ihnen eine Zusammenfassung

Kritik an der Volkswirtschaftslehre

In ihrem jüngsten Buch «Zahnrädchen und Monster: Was die Wirtschaftswissenschaften sind und was sie sein sollten» identifiziert Coyle drei Kritikpunkte an der Volkswirtschaftslehre als akademische Disziplin:

Eine Kritik bezieht sich auf die einseitige sozio-demographische Zusammensetzung von Forschenden in der Volkswirtschaftslehre. Diese stelle die Legitimität der Volkswirtschaft als Sozialwissenschaft mit politischem Einfluss infrage. Zudem könne die erwähnte Einseitigkeit die Volkswirtschaft daran hindern, Fragen zu jenen ökonomischen Themen zu stellen, die die Politik anpacken sollte.

Ein weiterer Kritikpunkt ist was Coyle die zunehmende «wohlfahrtsökonomische Blindheit» der Volkswirtschafslehre nennt. So würden viele Ökonominnen und Ökonomen davon ausgehen, die Fakten darzulegen und Politiker:innen fielen auf deren Grundlage Werturteile. Laut Coyle muss die Frage, welche Werte eine Gesellschaft mitbringt, jedoch Teil der ökonomischen Analyse sein. Zwar sei die unparteiische Betrachtung von Fakten ein wichtiger Teil dieser Analyse, aber gerade bei Themen mit einer politischen Dimension gäbe es letztlich unweigerlich Werturteile.

Coyles’ dritter Kritikpunkt ist, dass die ökonomische Analyse von Märkten oft auf der Annahme eines Standard-Wettbewerbsgleichgewichts fusst. Diese Annahme sei gerade für digitale Märkte, in der steigende Skalenerträge, Netzwerkeffekte, Kipppunkte und so fehlender Wettbewerb allgegenwärtig seien, nicht angebracht.

(Anmerkung des Autors: Während Kritik an der Häufigkeit der Annahme eines Standard-Wettbewerbgleichgewichts innerhalb der Volkswirtschaftslehre durchaus berechtigt sein mag, gilt es festzuhalten, dass unter Ökonominnen und Ökonomen Einigkeit besteht, dass diese Annahme bei digitalen Märkten nicht zutrifft.)

 

Messung von Wohlfahrt

Ein weiteres wichtiges Thema im Interview ist die Frage, wie Wohlfahrt gemessen werden kann. Coyle betont in diesem Zusammenhang, dass das reale BIP als Wohlfahrtsindikator insofern attraktiv sei, als dass er mit ökonomischer Präzision einhergehe und die Idee einer Bilanz einem breiten Publikum bekannt sei. Eine Limitation des BIPs bestehe jedoch darin, dass es auf Tauschwerten basiere. Gerade wenn es darum gehe, den Wohlfahrtswert eines nicht-rivalisierenden Guts zu messen, bestehe eine Diskrepanz zwischen dem Tausch- und dem Wohlfahrtswert. Beispiele seien immaterielle Güter, wie etwa geistiges Eigentum oder Daten.

Industriepolitik in Zeiten geopolitischer Spannungen

Gegen Ende des Interviews äussert sich Coyle zu industriepolitischen Themen. Dabei argumentiert sie, dass man sich im Lichte geopolitischer Spannungen nicht mehr wie früher auf offene Weltmärkte verlassen könne. Daher sei es wichtig, bestimmte strategisch wichtige Industrien zu fördern, da sonst die Abhängigkeit zu gross werden könne. Herausforderung sei dabei, zu wissen, wo die wirklichen Engpässe liegen.

Das vollständige Interview, erschienen im Magazin «Perspektiven der Wirtschaftspolitik» (Band 24, Heft 1), können Sie hier nachlesen.

Diane Coyle

Die britische Ökonomin Diane Coyle ist seit 2018 Professorin für «Public Policy» an der Universität Cambridge und Co-Direktorin des Benntt Institute for Public Policy.

Auf ihre frühe Karriere als Wirtschaftswissenschaftlerin folgte eine Zeit als Journalistin, unter anderem als Wirtschaftsredaktorin bei The Independent von 1993 bis 2001.

Coyle war zudem mehrfach im öffentlichen Dienst tätig, unter anderem als stellvertretende Vorsitzende des BBC Trust, als Mitglied der britischen Wettbewerbskommission oder des beratenden Ausschusses für Migration.

Coyle wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem königlichen Orden «Dame Commander of the Order of the British Empire (DBE)».

Portrait von Damian Diethelm
Beitrag von:
Damian Diethelm
erstellt am 05.09.2023
geändert am 06.09.2023