«Auch im Bildungssystem gibt es Kipppunkte»

Die Schweizer Bildungspolitik fordert, dass 95% aller junger Erwachsenen eine Berufslehre oder die Mittelschule abschliessen. Mit einer durchschnittlichen Quote von 91.4% weicht die Schweiz bisher davon ab.

Stefan C. Wolter, Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern, geht in einem Interview auf mögliche Ursachen ein.

Gemäss Stefan C. Wolter lassen sich die Jugendlichen ohne Abschluss auf Sekundarstufe II in zwei fast gleich grosse Gruppen unterteilen: Die eine Hälfte bringt nach der obligatorischen Schulzeit nicht das geforderte Niveau für einen weiteren Abschluss mit, die andere Hälfte scheitert während der Ausbildung oder dem Gymnasium.

Kantonale Diskrepanzen

Die Evidenz zeigt zudem, dass es bei den Abschlussquoten auf Sekundarstufe II zwischen den Kantonen grosse Unterschiede gibt. Während etwa im Kanton Nidwalden 96% aller Jugendlichen einen Abschluss erlangen, beträgt die Abschlussquote im Kanton Genf vergleichsweise tiefe 83%.

Die Gründe für diese Unterschiede liegen gemäss Wolter in den unterschiedlichen Gymnasialquoten. Wie Wolter im Interview mit dem «Einsteiger», einer Informationsplattform zur Berufs- und Mittelschulbildung im Kanton Bern, ausführt, weisen Kantone mit hohen Gymnasialquoten wie beispielsweise der Kanton Genf grundsätzlich eine tiefere Abschlussquote auf Sekundarstufe II auf.

Trotz dieses Fakts geht der Trend in den meisten Kantonen in Richtung allgemeinbildender, also gymnasialer Ausbildung. Dieser Trend wirkt bis zu einem gewissen Grad selbstverstärkend: Immer mehr Jugendliche entscheiden sich fürs Gymnasium, nur weil es alle anderen auch tun. Wolter spricht in dem Zusammenhang von Kipppunkten im Bildungswesen: Wenn der Anteil der Jugendlichen, die sich für eine Lehre entscheiden, einen gewissen Schwellenwert unterschreitet, kann dies zu einer Herabsetzung (Wolter spricht von Stigmatisierung) der beruflichen Grundbildung führen.

Unterschiede in der Wirtschaftsstruktur

Wolter weist zudem auf die wechselseitige Beziehung zwischen Bildungsangebot und Wirtschaftsstruktur hin. So werden in Kantonen mit einem höheren Anteil an Berufsbildung auch mehr Lehrstellen angeboten. In einem Kanton mit einem vielversprechenden Lehrstellenmarkt entscheiden sich daher mehr leistungsstarke Jugendliche für eine Lehrstelle und gegen den gymnasialen Bildungsweg.

 

Das vollständige Interview können Sie hier nachlesen.

Ein Artikel von Wolter, erschienen im Magazin «Die Volkswirtschaft», erläutert die Ursachen für die durchschnittlich zu tiefen Abschlussquoten detaillierter.

Portrait von Eva Wettstein
Beitrag von:
Eva Wettstein
erstellt am 12.09.2023
geändert am 13.09.2023